Neurozentrierte Ansätze im Skifahren

Balance ist nicht gleich Balance. Wichtige Erkenntnisse aus der Neuroathletik.

 

Spätestens seit der Fußballweltmeisterschaft 2014, bei der Lars Lienhard, Pionier des sogenannten „Neuroathletiktrainings“ die DFB-Elf begleiten konnte, werden neurozentrierte Ansätze im Sport verstärkt beleuchtet. Es gibt mehrere Ausbildungsformen auf dem Markt, die Inhalte aus neurowissenschaftlichen Erkenntnissen praktisch anwendbar vermitteln, um Trainer sowie Therapeuten eine holistische Perspektive zu geben, durch die sie ihre Praxis verbessern können. Auch im Wintersport haben die viel diskutierten Trainingsansätze bereits eine junge Vergangenheit. Worum handelt es sich bei diesem speziellen Training und welche Potenziale bieten sich für Wintersportler? Wir werden dies am Beispiel Skifahren einmal verdeutlichen:

Neurozentriertes Training meint, ganz allgemein gesprochen, dass das Nervensystem beim Training für die jeweilige Sportart gezielt berücksichtigt wird. Das Gehirn als „Steuerorgan“ menschlicher Bewegungen sowie alle peripheren Mechanismen, die für eine sportliche Leistung relevant sind, werden in drei Schwerpunkten adressiert (1):

  1.   Bewegungsanalyse

Ein Trainer mit neurozentriertem Schwerpunkt analysiert Bewegungen nicht aus biomechanischer Sicht, wie z.B. den biomechanischen Prinzipien, sondern aus Sicht der Bewegungssteuerung, die vom Gehirn ausgeht. Jede Bewegung wird als Output betrachtet, der letztlich vom Gehirn gesteuert ist. Je nachdem, welche Auffälligkeiten in der Bewegung ersichtlich sind, können Rückschlüsse auf bestimmte Hirnareale und Regelkreise gemacht werden. 

Übertragung am Beispiel Skifahren: 

Der Trainer erkennt beispielsweise, dass der Skifahrer in bestimmten Bewegungsrichtungen nicht stabil fährt und gelegentlich die Kontrolle verliert. Der Skifahrer berichtet ihm, dass er sich auf seinem linken Bein nicht ganz wohl fühlt, dies zeigt sich besonders in Linkskurven. Auch hat er das Gefühl, manchmal in sich zusammen zu fallen.  

Die reflexive Stabilisierung des Körpers und das Aufrechterhalten der Körperhaltung (Extensionsmuster) werden zu einem Großteil durch die Signalgebung des Vestibularorgans im Innenohr gesteuert. Empfängt das Gehirn keine klaren Signale von dieser wichtigen Struktur, können die Muskeln (auf der entsprechenden Seite) nicht optimal stabilisieren (2). 

  1.   Gezielte Assessments und Tests

Je nachdem, welche Anforderungen die Sportart mit sich bringt und welche Schwerpunkte im Training adressiert werden sollen, nutzt der Trainer gezielte Assessments und Tests, die Hirnareale und an der Bewegungssteuerung beteiligte Strukturen auf ihre Funktion überprüfen.  

Übertragung am Beispiel Skifahren: 

Ein wackelnder Kopf während der Heel-Strike Phase des menschlichen Gangs beispielsweise deutet darauf hin, dass das Gleichgewichtsorgan im Innenohr nicht optimal mit den Augen zusammenarbeitet, die den Blick am Horizont stabilisieren. Dies wirkt sich beim Skifahren dahingehend aus, dass die Balancefähigkeit nicht hinreichend ausgeprägt ist, um den Körper in jeder Lage perfekt zu stabilisieren. Der Trainer überprüft außerdem die Funktion des linken Gleichgewichtsorgans anhand der Stabilität im Tandemstand, während der Athlet seinen Kopf mehrmals nach links beschleunigt (Kopfrotation oder -neigung). Der Athlet kommt deutlich schneller aus dem Gleichgewicht, als bei dem gleichen Test mit Beschleunigungen nach rechts. Das heißt, dass das linke Innenohr weniger qualitative Signale sendet und der Athlet daher schneller seinen Muskeltonus in den Extensormuskeln sowie seine reflexive Stabilität verliert, sobald sein Gehirn eine Beschleunigung in die linke Richtung wahrnimmt. 

  1.   Individuelles Coaching, basierend auf einem „Assess / Re-assess” – Prozess

Der Athlet muss individuell gecoacht werden, um die entdeckten neuro-funktionalen “Schutzmechanismen” zu neutralisieren, um somit mehr Leistungsfähigkeit zu ermöglichen. Das Gehirn reagiert sofort auf eingehende Reize, sodass mit einer Verbesserung der Bewegungsqualität gerechnet werden kann, wenn der Trainingsreiz adäquat ist. 

Praxistipps:

Jeder Trainingsreiz, bei dem der Trainer gezielte Strukturen adressieren möchte, sollte auf seine Wirkung hin überprüft werden. Der Trainer kann hier ebenso testen, ob nach einem Drill die Kraftfähigkeit oder Beweglichkeit besser wird. Dementsprechend sollten nur biopositive Reize trainiert werden, um das Nervensystem nicht zu überfordern.

Übertragung am Beispiel Skifahren: 

In einer zunächst stabileren Position wird die Unteraktivität des linken Innenohrs aufgearbeitet. Eine Möglichkeit ist, im neutralen Stand mehrere Kopfbeschleunigungen in die linke Richtung auszuüben (3-4x 15-20Wdh). Dies kann mit einem festen Blickpunkt oder mit geschlossenen Augen geschehen. Wenn nach ca. 1-2min von diesem Trainingsreiz der Tandemstand inkl. Kopfbeschleunigung nach links stabiler ausfällt (Re-Assessment), wird dieser Trainingsreiz vom Nervensystem positiv bewertet, der Athlet wird nicht durch eventuelle Schutzmechanismen gebremst. 

Wie an dem Beispiel ersichtlich ist, kommt es beim neurozentrierten Training auf Präzision und Genauigkeit an. Herkömmliches Balance-Training wird oftmals auf unebenem Untergrund mit mehreren komplexen Störvariablen durchgeführt (Zusatzaufgaben, Gewichtsbeladung auf instabiler Oberfläche etc.). Dies ist nur bedingt “reales” Balance-Training, da das Nervensystem bei bestehendem Defizit im Bereich des Vestibularorgans oder der Augen völlig überfordert sein kann. Das im Beispiel angesprochene Defizit auf der linken Seite wird somit überhaupt nicht ausgeglichen, der Athlet lernt eher, wie er die fehlerhaften Signale der linken Seite kompensieren kann (3). 

Randbemerkung: 

Balance Training, bei dem mit extrem instabilen Untergründen gearbeitet wird, ist meist sehr unspezifisch, denn in realen Situationen wird die Aufrechterhaltung der Körperhaltung vor allem durch die Signalgebung der Augen und der Vestibularorgane gesteuert. Diese werden meist nicht gezielt angesprochen.

Wie kann mein eigenes Training also aussehen, wenn ich meine Balance- und Stabilisierungsfähigkeit für das Skifahren spezifischer trainieren möchte? Wie findet die Integration ins komplexe Training statt?

Hier eine mögliche Progressionsstufe: 

Stufe 1:  Aktivierung des linken Innenohrs im neutralen Stand mit geschlossenen Augen

  • Der Athlet steht im neutralen Stand und führt mit geschlossenen Augen Kopfrotationen und -seitneigungen nach links durch. Die Geschwindigkeit der Kopfbewegungen sollte nach links erhöht sein, die Rückführung der Kopfposition sollte langsam erfolgen. So wird primär das linke Innenohr vermehrt aktiviert. Der aufrechte Stand sollte gegeben werden. Es ist auf saubere Halsbewegungen zu achten.
  • Umfang: 
    • 2-3x 10 Rotationen nach links
    • 2-3x 10 Seitneigungen nach links

Stufe 2:  Aktivierung des linken Innenohrs im Vorwärtsgehen mit offenen Augen

  • Der Athlet läuft auf einer geraden Linie und führt mit offenen Augen, jedoch ohne festen Blickpunkt Kopfrotationen und -seitneigungen nach links durch. Die Geschwindigkeit der Kopfbewegungen sollte nach links erhöht sein, die Rückführung der Kopfposition sollte langsam erfolgen. So wird primär das linke Innenohr vermehrt aktiviert. Die aufrechte Haltung sollte gegeben werden. Es ist auf saubere Halsbewegungen zu achten.
  • Umfang: 
    • 2-3x 10 Rotationen nach links
    • 2-3x 10 Seitneigungen nach links

Wenn diese Stufe stabil gemeistert wird, kann die Ganggeschwindigkeit erhöht werden. 

Stufe 3:  Aktivierung des linken Innenohrs im Vorwärtsgehen mit offenen Augen und festem Blickpunkt

  • Der Athlet läuft auf einer geraden Linie und führt mit offenen Augen, jedoch mit festem Blickpunkt (z.B. Buchstabe an der Wand) Kopfrotationen und -seitneigungen nach links durch. Die Geschwindigkeit der Kopfbewegungen sollte nach links erhöht sein, die Rückführung der Kopfposition sollte langsam erfolgen. Es ist absolut wichtig, dass die Kopfrotation nur so schnell ist, dass der Blickpunkt immer noch stabil und scharf bleibt. Die aufrechte Haltung sollte gegeben werden. Es ist auf saubere Halsbewegungen zu achten.
  • Umfang: 
    • 2-3x 10 Rotationen nach links
    • 2-3x 10 Seitneigungen nach links

Randbemerkung: 

Bei Kopfbeschleunigungen mit festem Blickpunkt wird der sog. Vestibulo-okuläre Reflex trainiert, der besonders bedeutsam für die reflexive Stabilität der gleichseitigen Körperhälfte ist.

Praxistipps: 

Wenn Stufe 3 stabil gemeistert wird, kann ebenfalls Ganggeschwindigkeit erhöht werden. Es können auch vollständige Wirbelsäulen-seitneigungen sowie leichte Split-Squat positionen zwischendurch eingebaut werden, die dem Bewegungsprofil im Skifahren näher kommen. Der Athlet sollte sich Zeit lassen, um jede Stufe 2-3x täglich für mindestens 7 Tage zu trainieren, um dem Gehirn die Chance zu geben, die Unteraktivität im linken Innenohr auszugleichen.

Stufe 4:  Aktivierung des linken Innenohrs im Skifahren mit progressivem Tempo

  • Nach 2-3 Wochen täglichem Training sollte eine deutliche Verbesserung der Stabilität im Gang und auch im Tandemstand zu spüren sein. Es ist nun an der Zeit, diese Fähigkeit auch in das Skifahren zu integrieren. Hier kommen nochmal deutlich mehr Geschwindigkeiten sowie komplexere Anforderungen wie vertikale Beschleunigungen und mehr muskuläre sowie cardio-vaskuläre Anforderungen hinzu.

Zur Integration:

  • Der Athlet vor-aktiviert direkt auf der Piste sein linkes Innenohr durch die Übungen in Stufe 1 und 2 mit jeweils einem Durchgang á 10 Rotationen und 10 Seitneigungen. 
  • Er beginnt zunächst mit einer mittleren Geschwindigkeit, also auf keinen Fall gleich einer schwarzen oder blauen Piste. 
  • Während der Abfahrt versucht der Athlet für einige Momente zwischendurch, einen stabilen Blickpunkt in der Ferne zu fixieren und überprüft, ob er den Punkt scharf sehen kann, auch während sein Körper in verschiedene Richtungen beschleunigt. Kopfrotationen und -seitneigungen nach links können ebenfalls, wie bereits vorher im Gang trainiert, eingebaut werden, sobald die Körperstabilität gewährleistet ist.
  • Wenn der Blickpunkt in der Ferne scharf zu sehen bleibt und sich der Athlet sicher und stabil fühlt, kann die Geschwindigkeit und auch die Komplexität erhöht werden.
  • Sollten sich in bestimmten Positionen noch Defizite zeigen, sollte der Athlet auf weitere funktionale Prozesse überprüft werden. 

Fazit: 

Wenn man mit Athleten neurozentriert arbeitet, beleuchtet man Bewegungsqualität und sportliche Leistungen aus einer sehr breiten, vielfältigen Perspektive. In diesem Artikel haben wir uns auf ausgewählte Funktionen des Vestibularorgans beschränkt, in Realität jedoch wirken noch deutlich mehr Reize auf den Atheten ein. Jeder dieser Einflüsse auf das Nervensystem kann die Leistungsfähigkeit einschränken, daher sollte immer getestet werden, welche sensorischen Quellen fehlerhafte Signale senden. Das Balance Training für Skifahrer sollte auch die Kopfbeschleunigungen sowie die Kommunikation zwischen Innenohr und Augen beinhalten, da diese die Stabilität maßgeblich beeinflussen. 

Literatur: 

  1. Schmid-Fetzer U., Lienhard L. (2018). Neuroathletiktraining. Grundlagen und Praxis des neurozentrierten Trainings. München: Pflaum Verlag. 
  2. Mierau A. et al. (2017). Cortical Correlates of Human Balance Control. Brain Topography: Volume 30, Issue 4, pp 434–446.
  3. Huggenberger S. et al. (2019). Neuroanatomie des Menschen. Berlin: Springer. 

 

Hier findest du meinen Artikel zum Thema „Neurozentrierte Ansätze im Skifahren“: (Leistungslust, 06/2019)

Daniel Müller NKT

Im Rahmen meiner Tätigkeit als Sport- und Bewegungstherapeut und Trainer verbinde ich meinen Wissens- und Erfahrungsschatz aus neurobasierten Ansätzen und Natural Movement zu einer individuellen Herangehensweise, die auf hohe Bewegungsqualität abzielt, egal ob in der Therapie oder im Hochleistungssport. Ich kombiniere medizinisch-therapeutisches Wissen mit neurowissenschaftlichen Erkenntnissen, einem breiten Verständnis für menschliche Bewegungen und Trainingslehre sowie einem bio-psycho-sozialen Modell von Gesundheit.